EIN-BLICK

BRD 1987, R: Gerd Conradt, K: Carlos Bustamante, M: Frederic Rzewski, 10′,

Ein-Blick - Der Kameramann Carlos Bustamente bei der Arbeit -  Foto: Gerd Conradt 1986

Ein-Blick – Der Kameramann Carlos Bustamente bei der Arbeit – Foto: Gerd Conradt 1986

Grenzalltag an der Elsenstraße 41. Einen Tag lang blickt eine Kamera in den Grenzstreifen zwischen Treptow und Kreuzberg: zwölf Stunden lang ein Bild pro Sekunde. Wachwechsel, Turnstunde und Balkonminiaturen. Gerd Conradt zu seinem Film: „Die Grundidee war eigentlich, dass ich gesehen habe und mich auch selbst so verhalten habe, dass alle West-Berlin Besucher natürlich zur Mauer gegangen sind, inklusive Herrn Kennedy und allen anderen Politikern. Und die sind dann auf so ein Treppchen gegangen und haben dann ungefähr so für fünf, maximal für zehn Minuten nach Ost-Berlin geguckt. Diese zehn Minuten wollte ich gerne nutzen und hab gedacht, wenn ich einen Zeitraffer-Film mache, dann könnte ich in zehn Minuten vielleicht zwölf Stunden zeigen.“


Zur Entstehungsgeschichte des Films „Ein-Blick“ von Gerd Conradt

1955 kam ich aus Thüringen nach West-Berlin, 1961 erlebte ich dort den Bau der Mauer. Hilflos sahen wir zu, wie mitten durch die Stadt eine Trennlinie gezogen wurde. In den Jahren davor war ich oft in Ostberlin gewesen, hatte alte und neue Freunde besucht, günstig Bücher und Lebensmittel erworben, war zum Essen gegangen oder zum Frisör, hatte meine Filme entwickeln und Fotos abziehen lassen – alles für einen Tauschkurs von 1:5 – eine Westmark für fünf Ostmark. Für uns Westberliner war die Mauer gewiss weniger schlimm als für die Menschen in der DDR. Wir konnten zwar nicht mehr nach Ostberlin oder ins Umland, aber dennoch in die weite Welt reisen, per Transit mit dem Auto, der Bahn oder dem Flugzeug. Wir arrangierten uns mit der bestehenden Situation, die Stadt wurde subventioniert, die Bewohner bekamen zu ihrem Lohn eine Berlinzulage. Viele, die keinen Wehrdienst leisten wollten, zogen nach West-Berlin.

1968 brodelte die Stadt – ich war mit dabei. Wir liefen mit roten Fahnen durch Westberlin, was viele konservative Westberliner Bürger erzürnte. Besucher führten wir selbstverständlich zur Mauer. Man stellte sich auf eine der Aussichtsplattformen, die es entlang der Mauer in West-Berlin gab, und schaute mit Trauer und Mitgefühl hinüber zu den „Brüdern und Schwestern“ im anderen Teil der Stadt.
Im September 1986, anlässlich des 25. Jahrestags des Mauerbaus, wollte ich mit einem Film einen künstlerischen Beitrag leisten, der diesen absurden Zustand aufzeigen sollte. Bei meinen Spaziergängen an der Mauer hatte ich in Neukölln eine Situation entdeckt, die es in Berlin nur noch selten gab: zwei sich gegenüberstehende Häuser wurden durch die inmitten der Straße verlaufende Mauer getrennt. Ich fragte mich, wie das wohl sei, wenn man aus dem Fenster in eine Wohnung schaute, die in einem anderen Staat lag, wenn man sozusagen über den „Eisernen Vorhang“ in das Alltagsleben im sozialistischen Deutschland blickte.
Ich hatte erfahren, dass Besucher zumeist maximal zehn Minuten auf einer Aussichtsplattform verweilten und von dort nach Ost-Berlin schauten. Aus dieser Beobachtung heraus entstand die Idee, einen Zeitraffer-Film zu machen, der in zehn Minuten zwölf Stunden eines Tages zeigen sollte. In dem Haus auf der Westseite suchte ich mir eine Wohnung, aus der ich – über die Mauer hinweg – zum Osthaus blicken konnte. Zwölf Stunden lang machte meine 35-mm-Filmkamera ein Bild pro Sekunde. Daraus entstand der Film Ein-Blick, der eine Länge von zehn Minuten hat.
Zu unserer Freude schien an diesem Tag die Sonne. Die Bewohner des Osthauses, aber auch die Volkspolizisten aus dem Wachturm in unmittelbarer Nähe zu beiden Häusern, sahen die große Kamera und vermuteten, dass etwas Besonderes passieren würde. Die Menschen im Ostberliner Haus, die möglicherweise immer nur für kurze Zeit auf ihren Balkonen sein durften, dachten sich Anlässe aus, um das vermeintliche Ereignis besser miterleben zu können: sie pflanzten Blumen um, hängten Wäsche, legten Bettzeug zum Lüften heraus, stellten einen Kinderwagen auf den Balkon, standen rauchend am offenen Fenster… All dies schien wie in einem absurden Theaterstück.
Die Volkspolizei war verständlicherweise aufgeregt. Wir wurden von ihr beobachtet und fotografiert, sie telefonierten: „Hallo, hier ist der Gefreite Müller, ich sehe da oben in einem Haus in West-Berlin eine große Kamera! Was sollen wir tun?“. Offiziere kamen und gingen. Sie blickten ungläubig nach oben zu unserer Kamera, die nichts weiter tat, als sie ihrerseits zu beobachten.

Der „Slapstick-Charakter“ des Films unterstreicht die Unwirklichkeit der Situation. Menschen rennen, Wolken fliegen, auf- und abschwellende Schatten dramatisieren das Geschehen. Die Mauer und ihre Bewacher, die Volksarmisten, die mit einem Trabbi vorfahren, erscheinen wie Figuren aus der populären DDR-Sendung Sandmännchen.

Der Film wurde zu einem einzigartigen Dokument, der durch seinen Stil eine historische Situation zeigt und kommentiert, die politisch, militärisch und ästhetisch einmalig auf der Welt war, da sie nicht nur Berlin, sondern zugleich die gesamte Welt in zwei große Machtblöcke teilte.
Der Pianist Frederic Rzewski unterstreicht den aufklärerischen Charakter des Films durch seine selbst gespielte Komposition nach dem Thema des Volksliedes „Die Gedanken sind frei“.

© Gerd Conradt 2014