GRENZVERLETZUNG

BRD 1982, K: Jochen Heyermann, D: Stephan Elsner, 7′ 

Grenzen sind Einschränkungen. Es gibt Grenzen unterschiedlicher Art mit zum Teil gleichen Funktionen: Schutz, Abschirmung, aber auch Erfassung durch Computer bedeuten Einschränkung auf perfekterer und subtilerer Ebene. Bestimmte Grenzen sind sehr deutlich und üben stärkere Schlüsselreize aus. Ich will Grenzen bewältigen durch Verletzen und direktes Verarbeiten mit bildnerischen Mitteln. Die DDR-Mauer ist durch ihre Deutlichkeit eine verhältnismäßig plumpe Grenze. Durch ihre unkomplizierte Direktheit hat sie ebenso wie verschiedene Abschirmungen in West-Berlin, die ich in ähnlichen Aktionen übermalt habe, einen künstlerisch zu bewältigenden Reiz auf mich ausgeübt. Der Verlauf der Mauer ist an dieser Stelle weitläufig sichtbar. Dieser deutliche Einschnitt in eine Landschaft durch eine kompakte und undurchlässige Mauer hat mich interessiert. Zunächst habe ich an dieser Stelle ein Fragment fertiggestellt. Fragmente sind Bilder, bei denen der Bildträger eine durchsichtige Folie ist, auf die Papier mit ungegenständlicher, ruinöser Malerei geklebt wird. Dieses Bild konnte in Form und Farbe nur so an diesem Ort entstehen. Die Situation und Atmosphäre vor Ort spiegelt sich in einer direkten Wechselbeziehung im Malprozess wider. Am nächsten Tag habe ich mit Hilfe eines Brecheisens einen Teil der Mauer herausgenommen. Sie war nicht sehr stabil. In diese Mauerlücke von ca. 2 x 3 Meter habe ich das etwa gleich große Bild hineingestellt. Anschließend übermalte ich mit einer CO2 betriebenen Spritzpistole die noch transparenten Stellen (Folie) des Bildes. Es hob sich nur noch durch Form und Farbe von der Mauer ab. Einige Stunden später wurde das Bild von den DDR-Grenzbeamten sichergestellt, abtransportiert und beschlagnahmt. Die anschließende Festnahme meiner Person war nicht geplant, sondern ein Glückstreffer der englischen Besatzer. Die entstandene Lücke wurde zugemauert. Objektiv ist der alte Zustand wieder hergestellt, subjektiv ist dieser Teilbereich der Grenze nach dieser Malaktion ein anderer, d.h. durch Verletzung und direkter bildnerischer Verarbeitung ist dieser Grenzabschnitt für mich fassbar.

Stephan Elsner, 1982
Auszug aus der »Tageszeitung« vom 27.7.1982