BERLIN MILIEU – ACKERSTRASSE

DDR 1973, P. Staatliche Filmdokumentation, Redaktion: Veronika Otten, K: Roland Worel, Dieter Schönberg, Ausschnitt ca. 10′

berlin ackerstrasseGenosse Munzert

Im Jahr 1986 endete am Staatlichen Filmarchiv der DDR ein einmaliges Dokumentarfilm-Experiment: Die „Staatliche Filmdokumentation“ (SFD), 1970 als systematische Selbstdokumentation der DDR gegründet, sollte späteren Generationen ein umfassendes Bild der ‚ganzen‘ DDR vermitteln – ein Bild des sozialistischen Staates, das vollständiger sein sollte als die DDR-Medien es boten. Zwischen 1971 und 1986 entstanden für die Staatliche Filmdokumentation etwa 300, nicht für die Öffentlichkeit bestimmte Filme, darunter Berlin Milieu – Ackerstraße. Der Film porträtiert eine im Grenzgebiet gelegene Berliner Straße und den Lebensalltag ihrer Bewohner. Zu sehen sind unter anderem Hinterhöfe, Werkstätten, Läden, der Glanz vergangener Zeiten in einer Jahrhundertwende-Wohnung und eine Hausgemeinschaftsfeier. Die Grenzsicherungsanlagen, im DDR-Film sonst ein Tabu, werden ohne Kommentar gefilmt. „Packen Sie auch Heiße Eisen an?“ wurde die SFD einmal gefragt – in seiner Antwort verwies der Leiter unter anderem auf den Film Berlin Milieu – Ackerstraße. Anne Barnert 

Mit freundlicher Unterstützung des Bundesarchiv-Filmarchivs.

siehe auch:
Offene Geheimnisse. Die Staatliche Filmdokumentation des DDR-Filmarchivs 1970-1986 

Der heimliche Blick – wie die DDR sich selbst beobachtete


Transkript (Ausschnitt)

I: Genosse Munzert könnten Sie uns bitte erzählen, seit wann Sie hier in diesem Haus wohnen?
M: Ich wohne seit dem Jahre 1971 hier in diesem Haus.
I: Und Sie sind aus Karl-Marx-Stadt hier hergekommen, zum ersten mal haben Sie damals so etwas wie „Haus an der Grenze“ kennengelernt.
I: Welchen Eindruck hat das damals auf Sie gemacht?
M: Naja, man hörte, solange man noch nicht in Berlin wohnte, von der Grenze, von der Staatsgrenze, Berlin geteilt, West-Berlin, Hauptstadt der DDR.
M: Nun kam man selbst hierher und bezog diese Wohnung, die nun unmittelbar am Grenzgebiet, im Grenzgebiet gelegen ist.
M: Natürlich, Neugierde das erste Mal ‚reinkommen in die Wohnung und sehen: „Wie sieht denn das aus?“
M: Aber ich möchte sagen, wenn man eine Weile hier drin wohnt, dann gewöhnt man sich daran und es ist eigentlich nichts Besonderes.
I: Es sind nun zwei Jahre, dass Sie in dieser Wohnung leben hier.
I: Sie können auch das Leben und Treiben auf der anderen Seite der Grenze verfolgen.
I: Gibt es da Besonderheiten?
M: Ich möchte so sagen:
M: Im Allgemeinen von den Bürgern, Berlin-West betrachtet, dürfte es nichts Besonderes geben.
M: Sie bewegen sich so, wie wir das auch von unseren Bürgern gewohnt sind.
M: Ich möchte zumindest nur diese Bürger bezeichnen, die also unmittelbar in dieser Umgebung wohnen, die ich hier einsehen kann.
M: Nun hat man aber da drüben dieses Podium aufgebaut, ein kleines Treppchen und ich möchte sagen, hier zeigt sich doch der Unterschied zu einem allgemein lebenden Bürger und diesen Leuten, die auf dieses Treppchen steigen.
M: Man kann dort bemerken, dass sich mitunter an Wochenenden sehr viele Leute drängen und ich habe die Vermutung das sind keine Bürger West-Berlins.
M: Das sind Bürger, sei es der BRD oder anderen kapitalistischen Staaten, die dann besuchsweise in Berlin-West aufhalten und nun da draufsteigen, um mal zu sehen, weil es für sie etwas Neues oder eben von irgendwelchen Seiten Gehörtes ist, wie diese Staatsgrenze zur Hauptstadt der DDR nun aussieht.
M: Es erscheinen Militärbusse der US-Armee. Darin sitzen Zivilisten, die sich dann drängen, stoßen, schieben, um nun mal einen Blick zu erhaschen.
M: Es wird gefilmt, es wird fotografiert.
M: Zeigt sich ein Besucher unseres Wohnhauses, (…) (?) Bewohner unseres Wohnhauses am Fenster, wird auch mal gewunken, es wird etwas zugerufen.
M: Aber die meisten Zurufe, so kann man doch feststellen, gelten unseren Genossen Soldaten auf dem Postenturm.
M: Hin und wieder erscheint ein Hubschrauber, Militarhubschrauber, Streifentätigkeit, es erscheinen Beamte der West-Berliner Polizei auf diesem Treppchen.
M: Es erscheinen mitunter Angehörige der französischen Besatzungsarmee, weil dies gerade der französische Sektor ist.
M: Aber es treten auch Momente auf, wo man sagt: „Das ist unschön.“
M: Leute die schon von außen her recht verkommen aussehen , die dann mitunter an diesem Treppchen stehen und in provokatorischer Absicht, das merkt man heraus, unseren Genossen Soldaten auf dem Postenturm Worte zurufen, die also einen nach unseren Begriffen staatsfeindlichen Charakter tragen.
M: Unsere Genossen Soldaten lassen sich davon nicht beeinflussen, das merkt man.
M: Sind diese Worte unseren Bürgern, die hier aus dem Fenster zufällig heraussehen, gewidmet, dann sind wir auch ganz ruhig.
M: Die Soldaten versehen weiterhin ihren Dienst ruhig, diszipliniert, lassen sich also nicht dazu hinreissen irgendwelche Gegenargumente loszuwerden, um jetzt vielleicht über die Staatsgrenze hinweg zu diskutieren.
I: Es wäre als Zeitdokument interessant zu wissen, was ruft man denn dort nun, um zu beleidigen?
M: Nun hier möchte ich sagen, dass viel strapazierte, vom Westen strapazierte Gesäusel vom sogenannten Schießbefehl wird sehr oft auch in den Mund dieser Personen genommen, die nun hier auf dieser Treppe stehen.
M: Man ruft: „Ihr feigen Hunde!“ „(Ihr) Schweine, auf die eigenen Leute schießen!“ und Ähnliches, obwohl ich muss sagen, hier an diesem Abschnitt der Grenze hat es so etwas noch nicht gegeben.
M: Na und alle möglichen Schimpfworte, die man sich denken kann.

Transkript: Nino Selmikeit