FRANZ JOHN

interzone

interzone revisited

»Ich will höchstens nebenbei zur Kunst kommen.«  Harun Farocki

So ist das mit Geschichte, sie ist kein festes Ding. Sie begegnet einem wieder und wieder, im Kreis, oder in zerklüfteten Räumen. Heute ist der 28. August 2014, und eine Eilmeldung der F.A.Z. teilt mir über meinen Newsfeed mit, dass das russische Militär nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko mit einer Invasion der Ukraine begonnen habe. Bei Spiegel-Online lese ich, dass die Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas heute hält. Auf der Facebooksite von Al Jazeera finde ich einen einige Tage alten Artikel, in dem der Hamas empfohlen wird, ihre Raketen auf die Mauer um den Gazastreifen zu schießen, um sie niederzureißen, anstatt zu versuchen, Tel Aviv zu treffen.

Aktuell dreht sich das Weltgeschehen also um andere Mauern und Grenzen. Die Sache mit der Mauer, die einmal um West-Berlin herum gestanden hat und längst niedergerissen ist, ist jetzt schon, nach 25 Jahren, so weit fortgeschritten, dass ihre eigene Geschichtsschreibung eine Geschichte hat. Vor einigen Tagen schickte mir Franz John einen Artikel über seine CD-Rom interzone, den ich 2001 geschrieben habe. interzone war 1999 frisch erschienen. Ich lese darin den Satz: »In die Chausseestraße eingelassene Silhouetten von Kaninchen sollen die Daseinsform bedeuten, in der man sich im Sperrgebiet noch unbehelligt aufhalten konnte.« und denke, diesen Satz habe ich geschrieben? Ich frage mich, wann ich wohl damit aufgehört habe, das Wort »Daseinsform« zu benutzen? Ich denke, es ist eigentlich ganz nett, das Wort »Daseinsform«. Ich sollte es wieder benutzen, öfters. Dann denke ich, was für eine Daseinsform hat eigentlich die CD-Rom interzone? Was für eine Daseinsform hatte sie damals, 2001, und was für eine hat sie heute, 2014?

Ich lese meine damalige Beschreibung einer ihrer Inhalte wieder: »So kann man in etwa sechs Minuten – wenn man mag, an drei Stellen gleichzeitig – durch den Mauerstreifen rasen. Es sind kurze Schnitte, jeweils mit Ton. Meistens ist die Landschaft mit brüchiger Mauerlinie und verödeten Grenzanlagen menschenleer, die Vögel zwitschern, die Grillen zirpen und die Sonne scheint, ab und zu ertönt ein fernes Donnergrollen. Einmal knattern Grepos auf ihren Motorrädern vorbei, oder man hört Gesprächsfetzen, ein Lachen, Spitzhacken, Preßlufthämmer. Kurz sieht man die zu den Geräuschen gehörigen Menschen, sie verschwinden wieder, abgelöst von einer langen Strecke Stille. Ein Schuß, der plötzlich laut und trocken knallt, erschreckt; das Quäken eines Radios, dazu kaum eine Sekunde lang ein Liegestuhl mit aufgeschlagener Zeitung im Bild, berührt. Alles geht viel zu schnell. Wie in Wirklichkeit. « Alte Rechtschreibung. Aha! Aber ansonsten stimmt das immer noch. Man rast mit Hilfe eines Quicktime-Players durch diese befremdliche Runde eines der befremdlichsten Orte, die es jemals auf dieser Welt gegeben hat. Diese ungeheuerliche Umbruchgegend. Einmal herum in sechs Minuten. interzone macht’s möglich.

Alles andere an interzone sehe ich jetzt anders. Damals sollte ich eine CD-Rom besprechen, die zu dokumentarischen Zwecken an der Mauergedenkstätte Bernauer Straße in Berlin anzusehen und zu kaufen war. Heute besuche ich sie wieder als ein Objekt, das bald in einer Filmausstellung im Zeughauskino zu sehen sein wird. Damals kannte ich die Arbeit von Franz John noch nicht. Heute kenne ich sie genauer. Das ändert die Perspektive.

Interzone ist nicht die Arbeit eines Dokumentarfilmers und nicht die Arbeit eines Historikers. Hier ist jemand eindeutig mit künstlerischer Motivation unterwegs gewesen. Und zwar genau mit der künstlerischen Motivation, mit der Franz John an alle seine Projekte herangeht. Es geht ihm immer um eine ästhetische Erfahrung, die medial auf den Körper des Betrachters übertragen wird. Seine Methode ist, den Betrachter in einen Erfahrungsraum eintreten zu lassen. Entweder ist dieser Raum eine medial konstruierte Situation, wie bei Turing Tables, wo man einen mit auralisierendem Datensound und buchstäblicher Datenprojektion bespielten Raum betreten kann, in dem einem die Erdbeben in den Körper fahren. Oder es sind inszenierte Rundgänge, die einen mit auf einen Grenzgang nehmen. Wie beispielsweise bei der Salztangente, wo man die unterirdische Topographie einer Bodenbeschaffenheit, nämlich die Menge von Salz im Boden entlang einer 90 Kilometer langen Salzader zwischen Bocholt und Gronau, vermittels einer skulpturalen Installation aus blauen Stabfeldern sehen und entlang fahren kann. Je mehr Salz sich unter einem befindet, desto eindringlicher wirken die blauen Metallstangen, die aus dem Boden ragen. Eine skulpturale Visualisierung geologischer Information. Man erfährt sie. Am besten mit dem Fahrrad. Die ästhetische Erfahrung, die aus der Verbindung zwischen Salz und Stäben entsteht, passiert nebenbei. Der Betrachter bekommt keine Dramaturgie, sondern eine Situation und ein Fahrrad. Dann soll er zusehen, was er daraus macht.

Genauso auch bei interzone. Der Betrachter bekommt ein in einen Raum installiertes und an entsprechende Endgeräte für den betrachtergemäßen Output angeschlossenes Objekt. In diesem Fall eine CD-Rom; – ein Speicherformat, das heute, zur Zeit von serverbasiertem Breitbandstreaming und communityorientierten iPadmagazinen, selbst schon museal geworden ist. Sie ist in diesem Fall durch eine per Computermaus interaktiv gemachte Monitorsäule im Foyer des Zeughauskinos zu benutzen. Man bekommt den Hinweis »Rechts ist Westen, links ist Osten«. Dann soll man zusehen, was man damit macht.

Man kann sich durch die Sammlung durchmischter Fundstücke mit Mauerassoziation suchen, die John unter der Benutzungsoberfläche seiner interzone vergraben hat. Alte aus dem Mauerstreifen gegrabene Kinokarten aus dem untergegangenen Ostberlin kann man mit einem Mausklick abstauben. Das ist wie Archäologie im eigenen Gedächtnis mit künstlerischer Unterstützung. Oder man kann durch diese Quicktime-Kamerafahrten rasen, die John aus seiner Umrundung des Mauerstreifens erstellt hat, die er mit dem Fahrrad machte, mit der kleinen Video-8-Kamera im Gepäck.

Vor dem Hintergrund, dass hier ein Künstler unterwegs gewesen ist, der ein künstlerisches Programm verfolgte, das seiner künstlerischen Natur gemäß ist, kann man den Film in der interzone als das Dokument einer Land-Art-Performance anschauen. Da hat sich jemand mit seinem Körper einer Situation ausgesetzt. Sie durchlebt und durchlaufen. Er hat sie als beschaulich empfunden, wenn wie Vögel zwitscherten, als voyeuristisch, wenn jemand mitten im Todesstreifen im Feinrippunterhemd auf einem Klappstuhl saß und Radio hörte, als bedrohlich, wenn ihm die vereinzelt in der Peripherie der Mauer zurückgebliebenen und bewaffneten Grenzpolizisten auf ihren Motorrädern der Marke MZ entgegenknatterten, als erschreckend, wenn aus der Ferne ein Schuss fiel.

Das ist die Daseinsform, die interzone im Jahr 2014 für mich angenommen hat. Sie ist ein kunstkompatibles Objekt geworden, das nun zu Recht in ein Museum kommt. Ich würde empfehlen, wenn man Lust hat, sich meiner Lesart anzuschließen, sich beim Betrachten in den Kameramann hineinzuversetzen und nachzuempfinden, wie er die Situationen erlebt haben könnte, die ihm bei seiner Rundfahrt durch den Todesstreifen im Jahre 1990 begegnet sind. So könnte es sein, dass sie sich als leise Spur, als Hintergrundgeräusch ins Körpergedächtnis schreiben, darin andere Erinnerungen kommentieren und sich integrieren in den zerklüfteten Raum der Grenzgeschichten unserer Zeit, die einem wieder und wieder begegnen. Im Kreis. Denn so ist das mit Geschichte.

Thomas Goldstrasz

Fußnoten:

• Das Zitat von Harun Farocki stammt aus: Harun Farocki, Quereinfluss/Weiche Montage, in: Thomas Martin, Erdmut Wizisla (Hrsg.), Brecht plus minus Film, Berlin: 2003, S. 121.

• Die Zitate aus dem erwähnten Zeitungsartikel stammen aus: Thomas Goldstrasz, Rechts ist Westen : Franz John hat 1990 den Todesstreifen der Mauer gefilmt, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.07.2001, S. BS2

• Das Wort »Dasein« stammt von Martin Heidegger, wurde vor allem in seinem Buch Sein und Zeit (1927) entwickelt und ausschließlich auf Menschen zur Anwendung gebracht. Dass der Autor dieses Textes daraus das Wort »Daseinsform« bildete und es auf Kaninchen und später sogar auf CD-Roms zur Anwendung brachte, würde Heidegger vielleicht als Grenzerfahrung in Sachen Wortkombination und Wortverwendung empfunden haben, mindestens als Holzweg, und damit dreht es sich. Im Kreis.

Vita : Franz John beschäftigt sich mit neuen und alten Medien an der Schnittstelle zwischen menschlicher und maschineller Wahrnehmung. Seine Bilder, Objekte und Rauminstallationen entstehen meist über lange Zeiträume und sind komplexe Darstellungen kollektiver, oft automatisierter Sehprozesse, die er selbst als „realitätsarchäologische Studien“ beschreibt.

Thomas Goldstrasz ist freier Autor und schreibt u.a. für die FAZ