Zur Entstehungsgeschichte des Films „Ein-Blick“

von Gerd Conradt

1955 bin ich von Thüringen nach West-Berlin gekommen. 1961 habe ich den Bau der Mauer erlebt. Hilflos sahen wir zu, wie mitten durch die Stadt eine Mauer gebaut wurde. In den Jahren davor war ich oft in Ostberlin gewesen – hatte alte und neue Freunde besucht, günstig Bücher und Lebensmittel eingekauft, war essen gegangen und zum Frisör, hatte meine Filme entwickeln und Fotos abziehen lassen – alles für den Umtausch von 1:5, eine Westmark für fünf Ostmark. Für uns Westberliner war die Mauer nicht so schlimm wie für die Menschen in der DDR. Wir konnten zwar nicht mehr nach Ostberlin oder ins Umland, aber doch in die weite Welt reisen, per Transit mit dem Auto, der Bahn oder dem Flugzeug. Wir richteten uns ein, die Stadt wurde subventioniert, jeder bekam zu seinem Lohn eine Berlinzulage. Viele, die nicht zum „Bund“ wollten, zogen nach West-Berlin. 1968 brodelte die Stadt – ich war mit dabei. Wir liefen mit roten Fahnen durch die Stadt, das erzürnte die Westberliner Bürger. Besucher führten wir selbstverständlich zur Mauer. Man stellte sich auf eine der Aussichtsplattformen, die es entlang der Mauer in West-Berlin gab und schaute mit Trauer und Mitgefühl hinüber zu den „Brüdern und Schwestern“ im anderen Teil der Stadt.

Zum 25. Jahrestag des Mauerbaus, im September 1986, wollte ich einen künstlerischen Beitrag leisten, einen Film drehen, der diesen absurden Zustand aufzeigen sollte. Bei meinen Spaziergängen entlang der Mauer hatte ich in Neukölln eine Situation entdeckt, die es in Berlin nur noch selten gab. Zwei sich gegenüber stehende Häuser wurden durch die mitten auf der Straße verlaufende Mauer getrennt. Ich fragte mich, wie das wohl sei, wenn man aus dem Fenster in eine Wohnung schaut, die in einem anderen Staat liegt – sozusagen über den „Eisernen Vorhang“ blickt und das Alltagsleben im sozialistischen Deutschland miterleben kann.

Ich hatte erfahren, dass Besucher maximal zehn Minuten auf einer Aussichtsplattform verweilten und von dort nach Ost-Berlin schauten. Aus dieser Beobachtung entstand die Idee, einen Zeitraffer-Film zu machen, der in zehn Minuten zwölf Stunden eines Tages zeigt. In dem Haus auf der Westseite suchte ich mir eine Wohnung, aus der ich – über die Mauer – zum Osthaus blicken konnte. Zwölf Stunden lang machte meine 35-mm-Filmkamera pro Sekunde ein Bild. Daraus ist der Film „Ein-Blick“ entstanden. Er hat eine Länge von zehn Minuten.

Zu unserer Freude schien an diesem Tag die Sonne. Die Bewohner des Osthauses und die Volkspolizisten aus dem Wachturm in unmittelbarer Nähe zu den beiden Häusern sahen die große Kamera und vermuteten, dass etwas Besonderes passieren würde. Die Menschen im Osthaus, die wahrscheinlich immer nur kurze Zeit auf dem Balkon sein durften, dachten sich Anlässe aus, um das vermutetet Ereignis miterleben zu können: sie pflanzten Blumen um, hängten Wäsche auf, legten Betten zum Lüften heraus, stellten einen Kinderwagen auf den Balkon, standen rauchend am offenen Fenster….. Es war wie in einem absurden Theaterstück. Die Volkspolizei war natürlich aufgeregt. Wir wurden beobachtet, fotografiert, sie telefonierten: „Hallo, hier ist der Gefreite Müller, ich sehe da oben in einem Haus in West-Berlin eine große Kamera! Was sollen wir tun?“ Offiziere kamen und gingen. Sie blickten ungläubig nach oben – zu unserer Kamera, die nichts weiter tat, als sie zu beobachten.

Der „Slapstick-Charakter“ des Films unterstreicht die Unwirklichkeit der Situation. Menschen rennen, Wolken fliegen, auf- und abschwellende Schatten dramatisieren das Geschehen. Die Mauer und ihre Bewacher erscheinen wie Figuren aus der populären DDR-Sendung Sandmännchen. Denn die Volksarmisten kommen tatsächlich mit dem „Trabbi“.

Der Film wurde zu einem einzigartigen Dokument, er zeigt und kommentiert durch seinen Stil eine historische Situation, die politisch, militärisch, ästhetisch einzigartigartig auf der Welt war, die nicht nur Berlin, sondern die Welt in zwei große Machtblöcke teilte.

Der Pianist Frederic Rzewski unterstreicht den aufklärerischen Charakter des Films durch seine von ihm gespielte Komposition nach dem Thema des Volksliedes „Die Gedanken sind frei“.

© Gerd Conradt 2014